Ein Sitzplatz im Zug

Dieses Blog sehe ich als meinen Spielplatz und ich versuche gerne etwas Neues. In den letzten Tagen habe ich mich also an einer Kurzgeschichte versucht. Kommentare — und auch hoffentlich kritische — sind gerne erwünscht.

Die pubertierende Jugendlichen sind am Bahnhofssteig eindeutig in der Überzahl. Angestellte und Arbeiter fahren nicht mehr mit der Bahn. Auf dem Land hatte der Pendler ein Auto, die öffentlichen Verkehrsmittel sind schlecht ausgebaut. Man fährt in einer Fahrgemeinschaft, mit dem Fahrrad oder auch mit dem eigenen Auto. Denn noch sind die Benzinpreis auszuhalten und es siegt die Gewohnheit über die Wartezeiten auf zugigen Bahnhöfen.

Zwischen den unterschiedlichsten Grüppchen steht sie dort und hört Musik mit ihrem zweitklassigen MP3-Player. Die aktuellen Charts und einige der Tophits des letzten Sommers. Dann war der Speicherplatz schon voll. Ohne Make-Up wäre sie ungeschützt vor den wertenden Blicken der pickligen Jünglinge. Und so steht sie abseits am vollen Fahrradständer und beobachtete selber die unterschiedlichen Grüppchen auf dem Bahnsteig.

Es waren größtenteils Schüler der nahe gelegenen Berufsschule, wie sie schätze. Blaumann und/oder weiße Turnschuhe fand sie als Charakteristikum ausreichend. Berufsschule, BGJ, BVJ — sie machte keine Unterschiede und kannte sie auch nicht. Assis! war ihr einziger Kommentar. Den sie sich aber nicht traute, laut zu äußern. Gymnasiasten fuhren nicht mit dem Zug, sie wurden von Mami gebracht und später von Papi mit einem Auto beschenkt. Und Russen und Türken gibt es auch nicht so viele! Aber sie musste als einzige ihrer Klasse, ja ihres gesamten Jahrgangs in der Kälte auf den Zug warten. Die Prügelei hat sie zuerst gar nicht bemerkt.

Am hinteren Teil des Bahnsteigs steht eines der zugigen und mittlerweile nur noch teilweise verglasten Wartehäuschen. Auf dem Boden vor dem Häuschen liegt ein Jugendlicher. Zusammengekrümmt in embryonaler Haltung erwartet er den nächsten Tritt des Punks. Er trifft ihn in den Bauch, am Oberarm und wieder in den Bauch. Der Getretene windet sich wie eine Schlange auf dem Boden, um den Tritten zu entgehen. Der Punk schleudert ihm zwischen den Tritten immer wieder Beleidigungen entgegen, die sie aber nicht verstehen kann. Ich stehe zu weit weg.

Im Zug selber sind kaum Plätze frei. Sie setzt sich neben einen Jugendlichen im schmutzigen Blaumann. Er scheint Bauchschmerzen zu haben und aus seinem MP3-Player tönen laut die Bässe und Wortfetzen von Landser.

  1. Hey Marc,
    ich schließe mich meinem Vorredner nicht an. Denn, ob etwas durchschaubar war, oder nicht, würde ich erst entscheiden wenn ich das letzte Wort der Geschichte gelesen habe.

    Ich will also jetzt die ganze Geschichte lesen – wag es (bitte) nicht, es bei diesem Anfang zu belassen.
    Obendrein, bisher gefällt mir Dein Stil.
    Allerdings macht mir dieser Anfang schon etwas Angst.

    Das spannende für den Schreiber einer solchen Geschichte ist m.E., dass er nicht nur gezwungen wird sich mit seiner Protagonistin auseinanderzusetzen und sie zu verstehen, sondern sich mit ihr identifizieren muss – zumindest ein Stück weit. Und genau an diesem Punkt hast Du nun, bei der von Dir entworfenen Szenerie, ein echtes Problem… ;-D
    Ich bin mir sicher, dass eine Geschichte, wenn eben dies nicht gelingt, an der Oberfläche und unglaubwürdig bleibt, gerade dann, wenn man eine „Innensicht“ schreibt.

    Es gibt sicher Themen die wenige Identifizierung benötigen, aber selbst bei Terry Pratchett oder Douglas Adams merkt man, welche Figuren sie lieben und welche sie nicht verstehen.

    Wenn Dir die Identifizierung nicht gelingt, so mutmaße ich, wird es „nur“ ein Versuch. Aber, und darum würde ich sagen: schreibe unbedingt weiter, ein Versuch mit einem ausgesprochen hohem Erfahrungswert. (Für das nächste Mal – denn schreiben kannst Du und Ideen hast Du – da bin ich mir spätestens nach einem kürzlich erfolgten E-Mailwechsel sicher ;-D )

    Ich bin gespannt wie weit Du in Dich in Deine Protagonistin hineintraust.

    Ich das zu abgehoben? Nun, wir werden sehen… (…schallt es klugscheißerisch durch den Flur….)

    (Mann! Kritiken schreiben ist wirklich viel einfacher, als sich selbst etwas einfallen zu lassen…klasse!)

    Liebe Grüße
    Dirk

  2. Hallo Marc,

    ich finde gut, dass Du neues ausprobierst – in einem Genre, welches ich selbst ja auch schätze. Generell finde ich die Geschichte (von der ich eigentlich glaubte, dass sie zu Ende ist, im Gegensatz zu meinem Vorschreiber) von der Idee her und dem möglichen (literarischen) Konfliktpotential her gut gewählt.

    Du könntest das aber noch mehr nutzen – denn keiner Deiner ausführlicher beschriebenen Charaktere ist in den eigentlichen Konflikt persönlich involviert. Über den Punk erfährt man nichts, außer seiner Gewaltneigung – über den Verprügelten nichts anderes, als dass er Landser hört und Zug fährt.

    Das Mädchen wird vom Erzähler zwar beschrieben, doch wird diese Beschreibung nachher nicht mehr mit ihrem Handeln zusammengebracht – so hängt sie (wie auch in der Geschichte) etwas im leeren Raum.

    Offen bleibt auch die wörtliche Rede, die ja mehr nach einem inneren Monolog der jungen Dame aussieht – richtig? Warum steht sie zu weit weg? Im Zug setzt sie sich ja offenbar neben das „Opfer“ des geschilderten Geschehens – bislang hatte sie aber von der Prügelei nichts mitbekommen. Was also bedauert sei daran, dass sie zu weit weg stand? Hätte sie gern selbst zugetreten? Empfindet sie wegen ihrer Außenseiterposition eventuell Sympathie für den Anderen (so legt es das Zitat mit den Russen und Türken nahe)? Erkennt sie Landser, wenn Sie nur Charthits und die letzten Sommerhits hört?

    Mit diesen (oder anderen) Fragen könnte man den Charakter der Hauptfigur noch weiter ausformen und sie so vielleicht in eine Beziehung zum Konflikt setzen und das Problem dann für den Leser noch klarer machen? Auf welcher Seite stünde ich?

    Hoffe, dass das nicht zu viel Kritik war – würde mich freuen, mehr literarisch verdichtetes von Dir zu lesen!

    Viele Grüße,
    Karl

  3. Danke euch dreien für die schönen Kommentare!

    Als Kurzgeschichte ist es geplant gewesen und als solche soll sie auch weiterexistieren. Eine Fortsetzung oder Weiterführung wird es also nicht geben. Auch wenn ich vielleicht einen oder mehrere Charaktere weiter ausbauen und verwende werde — oder mich wenigstens davon inspirieren lassen möchte.

    Die Ausarbeitung der einzelnen Personen könnte wohl noch etwas deutlicher sein, mal schauen wie ich damit umgehen kann. Oder mit welchem Charakter ich mich auch identifizieren kann.

    Zum Inhalt möchte ich mich erstmal nicht äußern, ist doch schließlich auch eben das Nicht-Äußern/Agieren ein Thema (ich hoffe, das war jetzt literarisch genug *g*).

    Merci nochmal

  4. Moin Marc,

    noch als Nachsatz:
    Mein Eintrag kam sofort nachdem ich die Geschichte gelesen habe. Das finde ich besser, als stundenlang darüber nachzudenken und dann zu schreiben.
    Komisch war nur, dass ich in der letzten Nacht trotzdem darüber nachgedacht habe…
    Eines an Deiner Geschichte hat mich irritiert: Die fehlende Hilfe des jungen Mädchens, bei der Verletzung eines anderen Jugendlichen. Leider wird heute viel zu oft weggeschaut und das macht mir Angst. Meine 21-jährige Tochter hat soetwas erst am Wochenende erlebt und sofort die Polizei verständigt – gut so! M.E. darf es nicht sein, wenn ein Schwächerer (egal welcher Überzeugung (und „Rechts“ hat bei mir keine Chance) geschlagen wird und alle Welt schaut zu und hilft nicht. Erst wenn unsere Gesellschaft in der Lage ist, sich wieder einzumischen und Stärke zeigt, dann haben auch Extremisten keine Chance.

    In diesem Sinne….

    P.S. mein Blog ist wieder online, uttx hat 4 Tage Wartungsarbeiten gehabt 🙂

    Herzlichst Matthias

  5. Hi Marc,

    sehr gelungen! Bleib dabei, denn die Geschichte hat einen eigenen Stil, und das ist wichtig.
    Schön, dass du nicht in altbekannte „Wir helfen jedem“ Muster verfällst und somit zwar Klischees benutzt (das Wegschauen, etc.), sie aber umschiffst, indem du die offensichtliche Moral einfach fallen lässt.
    Ich bin begeistert, wenn jemand Geschichten einfach so schreibt, wie man sie nicht schreiben würde, wie aber das Leben es uns zeigt.
    Sehr schön, und weiter so!

    Viele Grüße
    Tobi

  6. @Matthias: Deine Träume wollte ich ja nun nicht stören 😉 Aber du hast natürlich recht, ein Eingreifen erfordert gefestigte Moralvorstellungen und Mut. Wie es nun aussehen könnte, das überlasse ich mal der individuellen Entscheidung.

    @Tobi: Danke schön! Ich wollte ursprünglich schon meine Lösung anbieten, fand es aber dann doch einfach zu fade. Und zu &quot:vorgekaut".

  7. Nach solchen Kritiken, die direkt aus der Feder meines Deutschlehrers stammen könnten, traue ich mich ja fast gar nicht, meine Meinung zu deiner Kurzgeschichte zu äußern. Ich versuchs trotzdem mal! 😉

    Wie schon von meinen Vorrednern bemerkt ist das „Weggucken“ leider wirklich Alltag. Selbst wenn einem selber keine mögliche Gefahr droht (in diesem Fall bspw. durch das „Wechseln“ des Opfers vom jungen Mann im Blaumann auf einen selbst), habe ich schon mehrere Fälle miterlebt, in denen einfach weggeschaut wurde. Einige Male habe ich selber auch nicht den Mut oder die Kraft gehabt einzugreifen, was ich im Nachhinein sehr bedauert habe und mir auch selbst vorgeworfen habe. Doch nicht nur die Jugend handelt oft so, sondern auch erwachsene Lehrer in der Schule verhalten sich oft nach der Devise „Nichts hören, nicht sehen, nichts sagen“.

    Trotz der knappen Ausdrucksweise (wenige Nebensätze) ist die Beschreibung der Situation sehr detailliert, sodass man sie sich sehr genau vorstellen kann. Das Beschriebene ist realistisch bis ins Detail und man könnte es, wüsste man nicht, dass es nur Fiktion ist, auch für Beobachtung einer wahren Begebenheit halten.

    Gerne mehr davon!

    [Homepage-Link entfernt! Grund: rechtlich bedenklich
    Marc]

  8. Hi Marc,

    daran kannst du bestimmt noch feilen.

    Die Idee ist gut. Aber es fehlt die Motivation weiterzulesen.

    Anyway

    Allerbeste Weihnachtstage euch Allen.

    Und eine schöne Zeit
    Djenghiz

  9. Danke Djenghiz, Feilen will, werde und muss ich natürlich. Aber weiterlesen brauchst du die Geschichte auch gar nicht, weil sie als Kurzgeschichte nun schon vorbei ist 😉

    Cinimo, vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Persönlich mag ich zwar auch längere und verschachteltere Sätze, die sind aber online meist schlechter zu lesen. Auch deshalb habe ich sie gewählt. Schön, dass aber die Stimmung und der Detailreichtum darunter nicht gelitten haben.

    Schöne Feiertage euch allen!

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