Zehn Nächte für eine Lebensperspektive

Jugendliche ohne Hoffnung, unbändigen Wut, meist aus muslimischen Einwandererfamilien aus Nord- und Schwarzafrika, keine Chance in Frankreichs Gesellschaft aufgenommen zu werden, 1295 Autos in Brand gesteckt in der letzten Nacht, außerdem ein Kindergarten, eine Mc-Donalds-Filiale, ein Einkaufszentrum, zwei Schulen, ein Postgebäude, Sachschaden bis Sonntag sieben Millionen Euro, 349 Leute festgenommen, Hubschrauber mit Videokameras, vielerorts abends der Busverkehr eingestellt, Ghettos, in denen Arme, Arbeitslose und Ausgeschlossene ein trübes Dasein fristen, der nationale Sicherheitsrat einberufen, Schweigemarsch gegen die Gewalt von 500 Einwohnern in Aulnay-sous-Bois (Pariser Vorstadt), Innenminister nennt Jugendliche aus Trabantenstädten „Gesindel“

Diese Stichworte finden sich in allen Artikeln zu den Riots in Frankreichs Trabantenstädten der letzten Tage. Was in Paris begann, setzte sich nun in weiteren Städten Frankreichs fort. Die Unruhen sind Ausdruck einer fehlenden Lebensperspektive der dortigen Jugend. Ein Gang zum Arbeitsamt bringt etwas Geld und die weitere, lebensnotwendige Kohle wird halt illegal beschafft. Der Tod zweier Jugendlichen und die schweren Verletzungen eines dritten lösten die Unruhe aus. Gegen alle Symbole des Staates richtet sich dieser gewaltvolle Protest und da auch auf Kindergärten und Schulen die französische Fahne weht, werden auch diese angegriffen. Eine politische Meinung oder eine politische Perspektive ist nicht zu erkennen. Dieser Protest ist nur Ausdruck eines Hasses auf einen Staat, der den Jugendlichen kein vernünftiges Leben bietet und wahrscheinlich niemals bieten wird.
Aber ohne eine politische Auseinandersetzung mit dem Staat und dem Gesellschaftssystem, was dieser repräsentiert, verpuffen die Proteste in einigen Tagen. Vielleicht noch ein paar Programme, um die Langeweile der Jugendlichen ab zu mildern, noch einige Dutzend Reporter, die durch die Trabantenstädte auf der Jagd nach Fotos traben, das wird es gewesen sein. Und natürlich noch einige Verhaftungen, Prozesse und ein Dutzend Jahre Haft für die, die erwischt oder gefilmt worden waren.

Da es unzählige Berichte gibt, habe ich einige Zitate zusammen gestellt und am Ende findet sich noch eine kleine Liste mit aktuellen Artikeln.

Vor zehn Tagen starben Bouna, 15, und Ziad, 17, in Clichy-sous-Bois durch einen 20 000-Volt-Elektroschock. Sie waren auf der Flucht vor der Gendarmerie. [ Frankreich bei Nacht (junge Welt, 05.11.2005)]

Doch es sind keineswegs brutale Banden, die das bürgerliche Frankreich gegenwärtig in Angst und Schrecken halten. Es finden keine mörderischen Exzesse statt. Bisher hat es keine Toten und
kaum Verletzte gegeben.
Der Aufstand der Migrantenjugend folgt keinem Plan und keinen politischen Überzeugungen. […] Doch es ist eine gerechte Rebellion, weil sie den Anspruch der sozialethnisch Ausgegrenzten auf menschliche Würde geltend macht.
Im Grunde findet auf dem Boden Frankreichs ein Konflikt zwischen der entwickelten kapitalistischen Welt und jener Welt statt, die von ihr in Abhängigkeit und Unterentwicklung gehalten wird. Die Wanderbewegung aus den Elendszonen in die reichen Länder erfolgt nicht freiwillig, sondern aus Not. Als Objekte verschärfter Ausbeutung sind Einwanderer stets willkommen, nicht aber als Subjekte, die soziale Rechte für sich in Anspruch nehmen. [ Elend der Migration (junge Welt, 07.11.2005)]

Seit Jahren äußern die Franzosen bei Wahlen und Abstimmungen ihren Unmut über ihre Regierung, reiht sich Protestbewegung an Protestbewegung, stehen Streiks auf der Tagesordnung. Doch einen Politikwechsel hat es nie gegeben, statt dessen werden Regierungschefs ausgetauscht. [ Frankreich brennt – Behörden reagieren hilflos (spiegel online, 06.11.2005)]

Generell sind sich Politikwissenschaftler und Soziologen einig, daß die jüngsten Unruhen das Ergebnis einer gescheiterten Integrationspolitik im letzten Vierteljahrhundert sind. [ Paris kommt nicht zur Ruhe (junge Welt, 07.11.2005)]

Issa erzählt über sein Leben: „Ich mache nichts. Ich habe vor drei Jahren die Schule abgeschlossen und kann weder Ausbildung noch Arbeit finden. Ich war auf dem Arbeitsamt. Nur Zeitjobs hab ich gehabt. Und von den neuen Arbeitsmarktreformen aus dem Fernsehen kommt bei uns doch nichts an. Von 50 Arbeitslosen findet dadurch vielleicht einer was. Und die anderen 49? Wir suchen, suchen, suchen und finden nichts.“
[…] „Meine Turnschuhe kosten 150 Euro, die Kapuzenjacke auch so viel. Das bezahle ich mit schmutzigem Geld. Wenn meine Eltern das kaufen sollten, müsste meine Familie hungern.“ […] Die Polizei mit Steinen bewerfen, ja, das seien sie. Autos neben einem Kommissariat anzünden, das seien sie auch. Aber Schulen oder Krippen abfackeln, „das sind doch Schwachsinnige“, grenzt sich Issa ab. „Und die Leute, die eine Fabrik hier angesteckt haben, die kapieren nichts, das ist schließlich Arbeit für uns“. […] Und wenn Issa doch Arbeit findet, hört er dann mit dem Dealen auf? „Auch dann werde ich handeln, aber weniger, man braucht eben Geld. Doch wenn wir arbeiten, machen die Jüngeren weiter. Ihnen muss der Staat zuerst helfen klarzukommen.“
[ „Wir wollen zeigen, dass wir die Schnauze voll haben“ – Porträt eines Randalierers (tagesschau, 05.11.2005)]

Mehrere tausend schwerbewaffnete Spezialpolizisten tun diesen ihren Job seit nun bereits neun Tagen. Zunächst nur in dem 28 000-Einwohner-Vorort Clichy-sous-Bois, wo zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei starben und sich die Wut darüber in Angriffen auf Kommissariate, Autos und Geschäfte entlud; dann im Laufe der vergangenen Woche in immer mehr Gemeinden der Pariser Peripherie, nachdem die Schuld der Polizei anhaltend geleugnet wurde; und schließlich in der Nacht zum Freitag auch in anderen Teilen des Landes. […]
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Frankreich bei 21,3 Prozent – die zweithöchste Quote (nach Italien) in den hochentwickelten Ländern des Kapitals. Im Pariser Gürtel und auch in anderen ghettoähnlichen Gebieten der Großstädte liegt sie bei bis zu 50 Prozent. Zugleich verfügen nach OECD-Angaben frankreichweit 14,4 Prozent aller Menschen zwischen 20 und 24 Jahren weder über einen Schulabschluß noch über Arbeit, und insbesondere in der Banlieue sind die kläglichen Sozial-, Bildung- und Arbeitsmarktpolitikansätze vollständig gescheitert.
[Frankreich bei Nacht (junge Welt, 05.11.2005)]

Sie sind Sportlehrer, Sozialarbeiter, Musiker oder Unternehmer, und sie wollen den jungen Menschen im Ghetto einen Weg nach draußen zeigen. „Große Brüder“ nennen sich die Vermittler, die einst selbst ohne Perspektive in den Vorstädten herumlungerten. […] „Wir sind hier eingeschlossen, in einem geschlossenen Kreislauf: das Postamt, das Zigarettengeschäft, du holst dein Arbeitslosengeld – und das war’s.“ [Mit dem großen Bruder aus dem Ghetto (spiegel online, 05.11.2005)]

Etwas ist gescheitert: der französische Weg der sanften Integration. Bildung nutzt wenig, wenn es keine Arbeit gibt. Und der harte Kurs des Innenministers Nicolas Sarkozy macht es offenbar nur
noch schlimmer. [Aufruhr in Eurabia (spiegel online, 07.11.2005)]

Dabei sollte man nicht den Fehler begehen, diese Ereignisse als Teil von geplanten Aktionen zu betrachten. Es handelt sich vielmehr um ein weitgehend unkoordiniertes Agieren unterschiedlich
zusammengesetzter Gruppen, die auch nicht notwendig dieselben Zielsetzungen teilen. […]

An diesen Zusammenstößen nehmen meist größere Gruppen von Jugendlichen teil, […] deren Koordinierung aber oft nur darin besteht, dass sich kleinere Gruppen gegenseitig per Handy über die Orte des Geschehens informieren. Daran nehmen auch zuvor Unbeteiligte und Außenstehende unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse teil, etwa motiviert durch polizeiliche Provokationen oder jedenfalls Vorgänge, die als solche interpretiert werden. […]

An anderen Orten und in anderem Zusammenhang sind dagegen des Öfteren kleine, hochmobile Gruppen am Werk […] Dabei verfolgt aber mitunter der organisiert handelnde „harte Kern“ eigene, vorwiegend kriminelle und der Selbstbereicherung dienende Ziele. Ihnen geht es darum,
Stromausfälle zu provozieren und Plünderungen betreiben zu können. […]

In anderen Zusammenhängen wiederum agieren lediglich lose Zusammenschlüsse von Jugendlichen, die sich etwa endlich „ernst genommen“ fühlen, wenn sie Autos in Brand stecken und dadurch für Schlagzeilen sorgen. […]

Bemerkenswert ist im übrigen, dass es auch in den Hochhaussiedlungen an den Stadträndern von Paris (im 19. und 20. Arrondissement), deren Einwohner oft eine ähnliche soziologische Zusammensetzung und ähnliche Alltagsprobleme […] aufweisen, in den letzten 8 Tagen nicht zu vergleichbaren Geschehnissen kam. […] Den Hintergrund für die Konstitution oder Konstruktion des spezifischen sozialen Objekts (oder Subjekts) „Banlieue-Bevölkerung“ bildet eine Situation, die man historisch als eine Form von „Territorialisierung der sozialen Frage“ begreifen kann. […]
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war die von besonderer Revolutionsangst gepeinigte französische Großbourgeoisie der Auffassung, es sei vorzuziehen, den größten Teil der „gefährlichen Klassen“ – darunter auch die Industriearbeiterschaft – in nur wenigen
Verdichtungsräumen rund um Lille, Paris, Lyon und Marseille anzusiedeln. Dadurch glaubte man, den „revolutionären Bazillus“ besser unter Kontrolle halten und das übrige Frankreich, das agrarisch und konservativ bleiben sollte, als „ruhiges Hinterland“ nutzen zu können.
[ Aufruhr in den Städten (telepolis, 05.11.2005)]

Nach Angaben des Justizministeriums wurden seit Beginn der Ausschreitungen 20 Beteiligte zu Haftstrafen ohne Bewährung von einer Dauer bis zu einem Jahr verurteilt. [ Chirac beruft Sicherheitsrat ein (spiegel online, 06.11.2005)]

Und hier eine Liste mit aktuellen Artikeln:

Nachtrag:
Am neunten März veröffentlicht Telepolis eine Nachbetrachtung von Nathalie Roller zu den Ausschreitungen und den politischen Konsequenzen: Von brennenden Autos und anderen urbanen Unannehmlichkeiten