Warum ist “Der Vorleser” so beliebt?

Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ war das erste deutsche Buch, das auf der Bestsellerliste der New York Times auf Platz 1 klettern durfte. Es ist in über 35 Sprache übersetzt worden, steht in einigen Bundesländern auf dem Lehrplan und machte den Richter des Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen zu einer Berühmtheit in der Literatur.

Warum der Vorleser so große Beliebtheit geniest, liegt sicherlich nicht nur am einfachen und verständlichen Sprachstil Schlinks, sondern auch in der literarischen „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus. Die Frage der Beliebtheit wurde auch bei dem mittlerweile eingestellten Frage-Antwort-Dienst COSMiQ gestellt und ich veröffentliche hier meine überarbeitete Antwort:

Warum ist „Der Vorleser“ so beliebt?

Ich wage mal eine sehr provokante These:
Der Vorleser ist deshalb so beliebt, weil er eine Erklärung und eine Rechtfertigung für die Täter des Holocaust liefert, von der man sich persönlich nicht angesprochen fühlen muss.

Das bedarf sicherlich einer Erklärung. Die (Mit-)Täterschaft Hanna Schmitz wird durch ihren Analphabetismus erklärt. Ihr brutales Verhalten wird nur in Verbindung mit ihrem Analphabetismus deutlich. So schlägt sie Michael in einer Szene mit einem Gürtel, weil er fort war und ihr einen Zettel hinterliess, den sie nicht lesen konnte. Im Konzentrationslager liess sie diejenigen ermorden, die von ihrem Analphabetismus wußten. Erst ihre Überwindung des Analphabetismus während ihrer Haftzeit ermöglicht ihr die Tragweite ihrer Tätigkeit als KZ-Wärterin zu erkennen und sie zu bewerten. Ist nun der Leser (!) des Buches somit eben nicht mehr in der Lage solche unvergleichlichen Verbrechen zu begehen? Ist er daher nicht „befreit“ von der Möglichkeit ebenfalls solche Verbrechen zu begehen? Und bietet nicht die sympathische Schilderung der geläuterten Hanna im letzten Kapitel des Buches eine Identifikation mit ihr erst an, bei gleichzeitigem Beschreiben der Unfähigkeit Michaels darauf zu reagieren?

Wie sehen die Figuren im letzten Kapitel aus? Hanna ist geläutert, sie sühnt durch ihren Freitod und das Stiften ihres Knast-Arbeitslohns für eine Holocaust-Überlebende. Und eben diese wird in keinster Weise symphatisch dargestellt, sowohl Michael als auch der Leser erleben sie als distanziert, kühl, berechnend und unpersönlich. Michael bleibt als trauriger Verlierer, der unfähig ist eine Beziehung einzugehen und immer noch in Erinnerungen an die frühe Beziehung mit Hanna schwelgt.
Als positive Idenfikationsfiguren bietet sich im letzten Kapitel eigentlich nur die geläuterte Hanna an, die als größtes Sühneopfer ihr eigenes Leben darbringt. Und gerade die Läuterung Hannas wird ihr erst durch die Überwindung des Analphabetismus möglich, und dieser erscheint so als Ursache für ihre barbarischen Handlungen der Vergangenheit.

Aber wie gesagt, diese These ist sehr provokant und blendet gerade im letzten Kapitel auch die Beziehung zwischen Hanna und Michael aus, aber ich halte sie dennoch für wenigstens diskussionswürdig.

  1. Ich glaub ich muss das Buch nochmal lesen, war wohl offenbar noch viel zu jung um es zu verstehen. Dein Beitrag jedenfalls hat mir eine gute Fragestellung dafür geliefert.

  2. Auch wenn ich Deinen Kommentar erst jetzt entdeckt habe… Es freut mich natürlich, wenn Dich mein Beitrag vielleicht etwas inspiriert hat.

  3. hab soeben den film gesehen. daraus geht es weniger um die frage des holocaust, sondern um die frage, wie weit können wir das böse und die schuld von uns selber trennen. hanna schmitz ist fiktion. wäre sie böse, gäbe es einen guten, der sie jagt und zur strecke bringt, wäre alles klar. nun ist aber das problem, dass sie menschlich wird, mit schönen und weniger schönen seiten, was wahrscheinlich der realität am nähesten kommt. wir können sie uns aber nicht mehr fernhalten. dies ist der grosse konflikt des protagonisten. sie ist seine erste liebe, sie gilt aber einhellig als böse und muss verdammt werden. dies lässt michael berger moralisch verwerfliches tun. er enthält dem gericht entlastendes beweismaterial vor, das sie entlastet hätte. er hat nicht den mut zu ihr zu stehen, da er die mehrheitsmeinung gegen sie ist und er sich für sie schämt. damit tut er genau das, was das nazitum ermöglicht hat. er schweigt und schwimmt mit dem strom und lässt damit unrecht zu. er verstösst gegen seine eigenn moralvorstellungen und scheitert daran.

  4. @andy: Vielleicht ist es im Film anders, aber ich habe das Gefühl, dass Michael Berg gerade zum Zeitpunkt des Prozesses noch keine Moralvorstellungen entwickelt hat. Jedenfalls keine mit denen auf den Nationalsozialismus bzw. den späteren Umgang damit adäquat reagieren kann.
    Die lässt Schlink ihn im Buch auch durchaus geheim halten und übergibt dem Leser die Verantwortung/Gelegenheit sie zu entwickeln.
    Aber auch wenn er nur stillschweigend zuschaut und so den Eindruck eines Mitläufers macht, halte ich es nicht unmittelbar vergleichbar mit den stillen Zustimmern des NS. Denn das Unrecht was Hanna möglicherweise geschieht, weil sie nicht in der Lage ist, ihren Analphabetismus als milderndes Moment anzuführen, ist ja nur ein milderndes Moment einer größeren Schuld Unschuldigen gegenüber.

  5. Michael Berg hatte während dem Prozess mit Sicherheit Moralvorstellungen und diese waren sogar sehr präzise. Er war zu diesem Zeitpunkt eben kein Mitläufer und „mit dem Strom Schwimmer“
    Er handelte sehr bewusst und entschied aus Liebe oder aus tiefster Überzeugung, für Hanna und ihr Recht ihr Leben lebenslang hinter Gittern verbringen zu wollen.
    Der wahre Mitläufer ist der Zuschauer, denn er wünscht sich gerade zu, dass Michael seine
    Erkenntnisse preis gibt und Hanna rettet. Der Zuschauer sympathisiert stark mit Hanna, und fühlt, dass es Situationen im Leben gibt, die konkrete menschliche Schwächen so stark amplifizieren, dass sie jede Moralvorstellung überblenden.
    Ich glaube der Zuschauer wäre sehr zufrieden gewesen, wenn Hanna nur 4 Jahre und die anderen Wärterinnen lebenslang erhalten hätten. Denn bei Hanna konnte man eine Erklärung
    für ihre Taten feststellen bei den Anderen nicht.

    In der Schuldfrage ist es glaube ich immer wichtig, dass es überhaupt ein Warum gibt. Dieses Warum nimmt uns die Angst, dass unsere Mitmenschen unvorhersehbar handeln könnten.
    Die Stichhaltigkeit und Angemessenheit des Warums spielt dabei überhaupt keine Rolle.
    Er wurde von seiner Mutter als Kind geschlagen, reicht oft schon, dass man nachvollziehen kann warum er als erwachsener Mann zum Frauen-Serienkiller wurde.

    Menschliches Zusammenleben basiert auf der Vorhersehbarkeit des menschlichen Handelns.
    Zu gern hätte ich gewusst, warum Hanna Analphabetin war, denn dies war bestimmt kein alltäglicher Zustand zu der damaligen Zeit.

    Zum Thema 3. Reich und Schuld.:
    Wie schuldig ist eigentlich ein Facharbeiter in einer heutigen Waffenfabrik, die Landminen herstellt. Weiß er nicht, dass die Landminen zum bewussten Verletzen oder Töten von anderen Menschen eingesetzt wird?
    Wie schuldig sind Soldaten, die bewusst in andere Länder einmarschieren und andere Menschen töten?

  6. Ich kann der Einschätzung nur zustimmen und möchte kurz zusammenfassen: Der Vorleser bringt die furchtbare Situation, in der sich ein Analphabet befinden muss mit den unmenschlichen Geschehnissen im Krieg und KZ zusammen. Und der Leser bzw. Zuschauer ist geneigt, beides gegeneinander aufzurechnen – und kann es nicht!

    Buch und Film ergänzen sich. Der Film macht die Bilder des Buches lebendig und das Buch enthält die Hintergrundinformationen, die der Film verkürzt.

    Letztlich erzählt der Vorleser eine, nicht die Geschichte, und lässt die Fragen „Was wäre, wenn Hanna…“ offen.

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